Das Wennfeld wird berühmt. Das Französische Viertel war es schon. Die Wagenburgen auch – irgendwie. Ins Französische Viertel ergießen sich sommers täglich Busladungen Neugierige um weltweit preisgekrönte Stadtentwicklung live lebend zu erkunden und zu bestaunen. Nächste Woche kommt auch der Wennfelder Garten ins Museum – ins Stadtmuseum. Am Freitag, den 22. Juni um 19 Uhr ist die Eröffnung der Ausstellung „Am Rand wird’s intressant – Wohnutopien und -Realitäten im Tübinger Süden“.
Zu sehen oben: das älteste noch stehende Haus des Wennfelder Gartens – die Schäferei der Familie Quint/Andresen. Vor ungefähr 100 Jahren wurde es vom Schäfer gebaut, der nicht mehr umherziehen, sondern seßhaft werden wollte. Seitdem in nächster Nachbarschaft mit Miltär, Obdachlosen, Wagenbewohnenden, Geflüchteten, Migrierten – Menschen eben.
Heute haben sich die (Bau-)Bedingungen geändert. Es sind 100 m Abstand nötig zum Schafstall – weit mehr als annodazumal- , will neu für’s Wohnen gebaut werden. Will, muss, kann? Es brodelt Streit seit einigen Jahren nun.
Nach Abwesenheit zurück gekommen ins Wennfeld scheint im Grün die Blüte schon vorbei. Beim Gießen im Vorgarten bilden sich gelbe Pfützen. Gelber Staub auf Straßen, Autos, Blumen, Fahrradsitzen. Dringt durch Fensterritzen. Bildet Schichten auf Möbeln, Herdplatten, an Fensterscheiben. Jeden Tag aufs Neue. Husten. Regen fehlt.
Ich wandere über’s Brachland, um zu entdecken, was blüht. Hier und da setzt sich eine Pfingstrose durch, deren Wurzeln der Bagger nicht den Garaus machen konnte. Akelei und Tränendes Herz. Reste von Tulpen, Primeln. Zitronenmelisse überall. Bewohnte Wüste.
SiebenUhrdreißig morgens. Die Kinder über mir sind schon lange wach. Erste Blüten am Schwarzdorn. Auf der Straße kein Mensch. Bodenfrostweiße auf Gras, Autofenstern und Fahrradsattel. Die Luft ist frisch. Weil die Hälfte des roten Hauses (Atelier Nr.2) abgerissen wurde, scheint die Sonne in mein Fenster.
Die albanischen Eltern sind wieder abgereist. Zwei Jahre nach der Ablehnung ihres Aslyantrags waren sie nun zu Besuch. Im Koffer haben sie jetzt: Gutes Deutsch und Hoffnung auf einen Neustart in Deutschland mit festen Arbeitsstellen. Die Ausländerbehörde muss entscheiden, ob sie Arbeit annehmen dürfen – Jobs, die niemand mit deutschen Papieren machen möchte.
Wenn du morgens aufwachst, spürst du die Stille. Du hörst: draußen ist es weiß. Diesen Winter rauscht es. Es regnet nass und nässer. Graubraun. Bis auf zwei Mal:
Einmal stand ich am Fenster. Zufällig. Plötzliches Schneegestöber in der Nacht. Innerhalb weniger Minuten sind Wege, Bäume, Zäune, Schilder weiß. Ein Krankenwagen mit Blaulicht fährt – die Panzerstraße hoch. Nein, er kommt zurück. Fährt den Berg hoch. Kommt zurück. Kostbar verlorene Zeit.
Er hält direkt vor unserem Haus. Mein Nachbar – zusammengebrochen unter der Verantwortung der Flucht. Er hat den Notarzt gerufen, sie konnten die Hausnummer nicht finden. Er ist wieder aufgestanden. Wer fliehen muss, entwickelt Kräfte. Soll sich eine(r) beklagen, wenn er die Kehrwoche nicht macht. In manchen Situationen bleibt keine Dringlichkeit für ein sauberes Treppenhaus.
Die Wohnungsbaugesellschaft hat eine externe Firma zum Schneeschippen vor’m Haus angestellt. Das kommt auch den Nachbarn und Nachbarinnen zugute, deren (Arbeits-)Leben aus Putzen besteht.
Bei den ersten Schneeflocken verwandelt sich die Panzerstraße in die beste Schlittenbahn weit und breit. Poporutscher, Bobs, Plastiktüten rutschen auch auf dünnem Weiß. Hier treffen sich Alle. Irgendwer umwickelt regelmäßig den Pfosten der Schranke am unteren Ende der Rutschbahn mit Strohballen. Danke.
Vom Küchenfenster kann ich, jetzt da die Bäume keine Blätter tragen, die Lichter der Kliniken sehen, hinten auf dem Berg.
Der Bus fährt vorbei. Die riesigen Bäume rauschen. In der Panzerhalle Bälle und Kinderstimmen. Baustellenzaun, bald Baustelle.
Die Kehrwoche im Außenbereich erledigt eine Firma. Im Haus machen die Bewohnenden das selber. Wischen von oben bis unten. Sechs Parteien, zwei Kinder in einer Wohnung, bald vier in zwei, keine Haustiere. Auch keine Ratten und Mäuse.
Nach hinten Panzerstraße, Schäfer, Wald und das rote Haus.
Die Bäume sind gefällt. Mal wieder, vor dem nächsten Abriss.
Der Apfelbaum hat dieses Jahr nicht viel getragen. Das lag am großen Frost im Frühjahr.
Die Polizei kam. Gerufen von einer Nachbarin, die sich um die Bäume sorgte. Eine Baumfällgenehmigung lag vor. Es hätten sich mal Menschen an eine Tanne gekettet, erzählt ein Nachbar. Gefällt wurde sie trotzdem. Es werden neue gepflanzt, was regen die sich auf.
Ob sie auch Apfelbäume pflanzen? Apfelmus-Selbstversorgung als Beitrag gegen die Armut. Die grauen Steinplatten zwischen den neuen Häusern sehen nicht nach Äpfeln aus. Leider. Die Nachbarin hat sich gefreut, als ich die Äpfel aufgelesen habe. „Das sind gute Äpfel“, hat sie gesagt und mir eine gespülte Plastiktüte rausgebracht. Damit ich nicht in meine Jacke sammeln muss. Das Apfelmus war rosa und süß.
Gegründet wurde die Wohnungsbaugesellschaft GSW im Jahr 1949 nach dem 2. Weltkrieg vom späteren VdK, damals „Verband der Kriegsgeschädigten“. Die GSW baute einen großen Teil der Siedlungshäuser im Wennfelder Garten. Davor wuchsen hier die Obstbäume der städtischen Gärtnerei. Die neuen Bewohnenden bekamen die Wohnungen meist zugewiesen. Über oft viele Umwege von Migration und Flucht „aus dem Osten“ waren sie in Tübingen gelandet. In Armut leben, mit wenig Geld auskommen, war Alltag für die Gründer der GSW und für die Menschen, die in den Häusern lebten. Schauen, woher das Essen auf den Teller kommt. Daher vielleicht die Apfelbäume. Wenn früher im Wennfelder Garten Bäume gefällt wurden, kam nicht die Polizei, es kamen die Nachbarn und wollten das Holz.
Dunkle schwere Tannen und helle feine Birken – immer in Gruppen zu dritt, zu viert, bilden kleine Bauminseln. In den 1950ger/60ger Jahren waren Baumgruppen modern. Auch meine Großeltern im fernen Osnabrück hatten eine im Garten. Als Kind stellte ich mich in die Mitte und war plötzlich an einem anderen Ort. Still, dämmrig, der Himmel nicht sichtbar, der Boden weich von braunen Tannennadeln, umgeben von der Kraft der Bäume.
Im Wohngebiet sorgen Birken für Heuschnupfen und Staub. Das war damals nicht bekannt. Als 1961 im Wennfelder Garten gebaut wurde, gab es ein Lied (und einen Film) „Drei weiße Birken“. Das Lied war der Grund für die Birken, so geht das Gerücht, so reden die Nachbarn. Die Alten, die schon sehr lange hier wohnen, sagen wir, seit Anfang an. Es werden weniger, aber es gibt sie noch. Wie wir alle tragen sie die Geschichten ihres Lebens in sich. Ihre Erzählungen, zusammengerafft mit der Weisheit des Alters, begrenzt auf das Wesentliche, spiegeln die Geschichte unserer Gesellschaft.
Gefühl von Zuhause wird geprägt von Flucht, Vertreibung, Krieg, Frieden, Sicherheit. Dem, was (endlich) da ist und dem, was nicht (mehr) da ist. Das Erleben von Armut, die Erfahrung von Fremdsein sind nach einer Generation nicht abgeschlossen. Europaweit, weltweit, gestern und heute.
„Drei weiße Birken
In meiner Heimat steh’n.
Drei weiße Birken,
Die möcht‘ ich wiederseh’n.
1. Denn dort, so weit von hier
In der grünen, grünen Heide,
Da war ich glücklich mit ihr,
Und das vergess‘ ich nie.
2. Ein Abschied muß nicht für immer sein,
Ich träume noch vom Glück.
Es grünen die Birken im Sonnenschein
Und sagen:“Du kommst zurück!“ (…)“
„Sind Sie traurig?“ „Ja, manchmal denke ich an Zuhause.“ „Gefällt es Ihnen hier nicht?“ „Doch, aber es ist hier Alles ganz anders. … Naja, da musste ich eben wieder von Vorne anfangen.“ „Haben Sie jemand zurückgelassen?“ „Ja, …. aber reden wir nicht mehr davon.“ „Es wird schon wieder werden. Irgendwie geht alles weiter.“ „Aber bei Euch ist es auch schön.“
Meine Nachbarin ist zur Wahl gegangen. Sie hatte keinen Wahlberechtigungsschein zugeschickt bekommen. Auch keine Einladung zur Briefwahl. Also hat sie sich am Wahlsonntag, 24. September 2017, auf den Weg gemacht zu den Stadtwerken. Da ist ihr Wahllokal – seit Jahren. Meine Nachbarin kann nicht gut laufen. Im vergangenen Jahr hat sie sich so krank gefühlt, dass sie nicht zum Arzt gegangen ist. Aber sie ist wählen gegangen. Wollte sie.
Im Wahllokal haben sie ihre Adresse nicht gefunden. Görlitzer Weg.
„Aber ich wohne dort in diesem Haus“, hat sie gesagt. „Ich wohne dort die ganze Zeit.“
Die Wahlhelfenden haben in die Listen geguckt. Dann haben sie einen Stadtplan zuhilfe genommen. Wahrscheinlich hat jedes Wahllokal so einen Stadtplan. Damit die Wahlhelfenden den Wahlwilligen sagen können, wo sie hin müssen, falls sie mal im falschen Wahllokal landen.
Die Wahlhelfenden konnten meiner wahlwilligen Nachbarin nicht sagen, wo sie hin muss. Das Haus, in dem sie seit Jahren und immer noch wohnt, gab es auf dem Stadtplan nicht. Auf dem Stadtplan ist es wohl schon abgerissen. Also gibt es auch ihre Adresse nicht – auf keiner der Listen.
„Jetzt weiß ich, warum Angela Merkel so wenige Stimmen hat,“ sagt meine Nachbarin.
Meine Nachbarin konnte am Wahlsonntag nicht wählen.